
Unser Lebensstil ist nicht nachhaltig. Wie können wir die graue Energie reduzieren und die Ökobilanz unserer Ernährung verbessert, werden?
Johanna Herrigel diskutierte mit
- Matthias Stucki, Leiter der Forschungsgruppe Ökobilanzierung, Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der ZHAW
- Florian Bernardi, Vereinigung Bäuerlicher Organisationen im Fürstentum Liechtenstein und Ernährungsfeld Vaduz
- Gebhard Beck, integrity.earth
- Sandra Fausch, Verein Ackerschaft
- Flurina Seger, Stiftung Lebenswertes Liechtenstein
Gern verweisen wir auf die Aufzeichnung auf YouTube für die komplette Diskussion in der Fair Trade Town Vaduz. Die spannende und angeregte Diskussion diente als Grundlage zu diesem Artikel.
Lokal und Fair unterwegs:
Bürgermeister Manfred Bischof stellte in seiner Willkommensrede klar: die Gemeinde Vaduz nimmt ihre Vorbildfunktion und Mitverantwortung für den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen wahr. Die Stadt Vaduz ist Fair Trade Town und hat eine Nachhaltikeitsstrategie. Sie unterstützt Bestreben, für gewisse Produkte die ganze Wertschöpfung wieder ins Land holen. Als Beispiel sei der Ribelmais genannt, der bereits wieder lokal angebaut wird. Der nächste Schritt ist eine lokale Mühle; momentan wird der Mais noch im nahen Ausland gemahlen.
Florian Bernardi, VBO-Vertreter, Bioberater und Weltackerverantwortlicher ergänzt die Liste der Erfolgsgeschichten mit Hartweizen – nächstes Jahr gibt’s die erste Liechtensteiner Pasta, und er erzählt vom Hanf, der in die Fruchtfolge aufgenommen wurde. Er stellt sich vor, wie in sandigen Böden Erdnüsse angepflanzt werden könnten, und lokal Öl gepresst. Als Bioberater und im Rahmen des VBO ist er ständig im Austausch mit Landwirtinnen und Landwirten, motiviert sie zum Unternehmertum und empfiehlt ihnen, was auf dem Ernährungsfeld erfolgreich ausprobiert wurde, auch zum Anbau.
Bestimmt fördern die familiären Verhältnisse im kleinen Land die Kommunikation und vereinfachen die Synergien zwischen den verschiedenen Initiativen. Und wenn Flurina Seger von der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein sagt, ein Ziel sei, in 5 Jahren eine Agrarpolitk zu haben, die für andere Regionen und Länder Vorbildcharakter habe, dann scheint das, unter anderem wegen der kurzen Wege, durchaus erreichbar.
Essen ist Genuss
Die Liechtensteiner wollen die Wertschöpfung wieder ins Land bringen und dabei die Wege verkürzen, Produktevielfalt erhöhen und den Ess-Genuss fördern. Die Beziehung zum Essen soll wieder persönlicher werden, damit KonsumentInnen den Hintergrund und die Entstehung ihres Essens kennen. Neue lokale Produkte und regionale Wertschöpfungsketten erzählen eine Geschichte . Und das ist für alle positiv: die Produzent.inn.en erhalten einen fairen Preis für ihre Produkte und die Konsument.innen eine persönlichere Beziehung und Wertschätzung ihrem Essen und seiner Wertschöpfungskette. Das wiederum, um auf das Thema des Abends zurückzukommen, vermindert foodwaste, der über einen Drittel des gesamten Ökologischen Fussabdruckes misst.
Das Ernährungsfeld Vaduz, aber auch die AckerschaftLiechtenstein und Integrity.Earth haben zum Ziel, Menschen über Erlebnisse und Begegnungen wieder näher zu ihrem Essen führen, indem sie Wissen vermitteln und Zusammenhänge aufzeigen. So ist denn auch das Ernährungsfeld an zentraler Lage und für alle immer zugänglich.
Die Stiftung Lebenswertes Liechtenstein ist Bindeglied zwischen Zivilgesellschaften, Industrie und Politik und setzt sich ein für Kommunikation und Austausch zwischen den Interessensgruppen. Flurina Seger hofft, die Nachhaltigkeit in der Politik verankern zu können. Vor kurzem haben sie «Agrarökologie Liechtenstein» lanciert mit drei Projekten, um «das praktikable sichtbar zu machen», und, unterstützt vom VBO und FIBL, der Politik Daten und Entscheidungsgrundlagen zu liefern.
Nachhaltigkeit – graue Energie
Für Nachhaltigkeit spielt Graue Energie, das Thema des Abends, eine grosse Rolle. Graue Energie ist die gesamte Energie, die für ein Produkt benötigt wird. Angefangen bei der Gewinnung der Rohstoffe über die Herstellung, Transport, Verarbeitung, Lagerung, Verpackung, Zubereitung und Entsorgung.
Unser Gast Matthias Stucki, Leiter der Forschungsgruppe Ökobilanzierung, Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der ZHAW, fordert deshalb, dass das damit verbundene Lebenszyklus-Denken überall vorkommen und alle betreffen soll und Ökobilanzen dafür genutzt werden sollen, um die Ernährung aus Umweltsicht zu optimieren. Johanna Herrigel fragte nach:
Interview mit Matthias Stucki
Was sind Ökobilanzen?
Ökobilanzen sind eine wissenschaftliche Methodik, die Umweltauswirkungen eines Produkts zu messen und in Zahlen auszudrücken. Der englische Ausdruck dafür, Life Cycle Assessment (LCA), betont die Lebenszyklusperspektive. Es geht um weit mehr als die Verpackung, die ich im Supermarkt sehe.
Der Lebenszyklus beginnt normalerweise mit dem Abbau von Rohstoffen, zum Beispiel von Phosphat für Dünger, oder Metallerzen für die Produktion von Maschinen, der Anbau von Lebensmitteln, ihre Verarbeitung, Lagerung und Transport, bis hin zur Zubereitung der Mahlzeit zu Hause oder im Restaurant und der Entsorgung von Verpackung und foodwaste.
Bei jedem Stadium werden Ressourcen verbraucht: Wasser, Energie, Materialien und es entstehen Emissionen wie CO2 und giftige Substanzen, Schadstoffe in Luft, Boden und Wasser.
In der Ökobilanz wird das alles zusammengefasst und die verschiedenen Umweltfaktoren berechnet. Die graue Energie ist dabei ein wichtiger Indikator. Aber neben der grauen Energie werden in einer Ökobilanz auch andere Umweltaspekte, wie die toxische Wirkung auf die Ökosysteme, berücksichtigt (zum Beispiel durch den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln). Auch der Flächenverbrauch in der Landwirtschaft spielt eine Rolle.
Wie wird eine Ökobilanz berechnet?
Ökobilanzen werden nach einem standardisierten, 4-stufigen Prozess berechnet (ISO Norm 14040)
- Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen. Was will man überhaupt untersuchen?
- Sachbilanz: Das ist eine komplexe «Datenschlacht». Wie viel Diesel braucht der Traktor, was ist die Ertragsmenge, wie viel und welche Pflanzenschutzmittel werden eingesetzt, welche Verluste haben wir entlang der Wertschöpfungskette etc. Häufig erheben wir hierfür mit Hilfe von Fragebogen Daten von Bäuerinnen und Bauern, und auch aus der Industrie. Diese Vordergrunddaten werden verknüpft mit Datenbanken, in denen zusätzliche Daten für die Ökobilanz schon hinterlegt sind, wie zum Beispiel die Umwelt-Intensität des typischen Schweizer Strommixes oder die Zusammensetzung eines typischen Lastwagens.
- Wirkungsabschätzung: Mit dem Modell aus der Sachbilanz werden in der Wirkungsabschätzung anschliessend verschiedene Umweltindikatoren ausgewertet. Dazu gehören die graue Energie, der Wasserverbrauch, klimarelevante Treibhausgasemissionen, eutrophierende Substanzen, oder auch giftige Substanzen, die über den gesamten Lebenszyklus vorkommen.
- Interpretation: In dieser Phase beschreiben wir, welche Erkenntnisse aus der Ökobilanz gezogen werden können und wo wir ansetzen können, um ein Produktesystem ökologisch zu optimieren.
Die graue Energie, die benötigt wird, um die Nahrungsmittel für eine Person bereitzustellen beträgt in der Schweiz zirka 7 Fässer Erdöl pro Jahr!
Ernährung ist ein wichtiges Thema aus Umweltsicht, es ist der Konsumbereich mit der grössten Umweltbelastung; mehr als Wohnen, die private Mobilität, oder Freizeit. Das heisst, wir können viel bewirken, wenn wir unser Konsumverhalten in der Ernährung ändern.
Wo sind die Umweltauswirkungen am höchsten?
Fleisch und Fisch haben die grössten klimarelevanten Emissionen (28% des Totals), dann kommen gleich die weiteren tierischen Erzeugnisse (Milch und Eier, 18%) und Getränke (21% – besonders umweltintensiv sind neben Kaffee alkoholische Getränke). Früchte und Gemüse haben einen relativ kleinen Anteil am Umweltabdruck der Ernährung.
Verpackung, Verarbeitung und Transport haben einen relativ geringen Einfluss. Die grosse Einsparung wird also nicht beim Einkaufen mit der Stofftasche gemacht, sondern das beste Ergebnis bringt die Reduktion von tierischen Produkten. Und die Elimination von Foodwaste entlang der Wertschöpfungskette bringt eine Reduktion des ganzen Fussabdruckes von bis zu einem Drittel!
Bio oder konventionnel?
Biologische Produkte haben den Umweltvorteil, dass keine chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmittel und kein synthetischer Mineraldünger eingesetzt werden dürfen. Aufgrund der tieferen Erträge ist jedoch der Flächenverbrauch bei vielen biologischen Produkten grösser als bei konventioneller oder integrierter Produktion.
Kapsel- oder Filterkaffee?
Der konventionelle Kaffeeanbau ist sehr umweltintensiv, weshalb die eingesetzte Menge an Kaffeebohnen entscheidend ist für die Ökobilanz. Aus diesem Grund kann es sein, dass Kaffee aus Kapseln aufgrund der geringerer Kaffeebohnenmenge trotz grösserem Verpackungsanfall tiefere Umweltauswirkungen hat, als Kaffee aus einem Vollautomaten.
Der Transport ist nur 10% des Ganzen. Ist saisonal und regional also nicht besonders wichtig?
Auch beim Transport gibt es mit einem Anteil von 10% ein relevantes Einsparpotential. Insbesondere Flugfracht aus Übersee, wie zum Beispiel leicht verderbliche tropische Früchte, haben wegen der Flugemissionen einen grossen CO2-Fussabdruck. Andere Verkehrsmittel, zum Beispiel Frachtschiffe, können solch grosse Mengen transportieren, dass die Emissionen, auf das einzelne Produkt heruntergebrochen, nicht mehr viel zum Gesamtresultat beitragen. Bei mit dem Schiff transportierten Lebensmitteln ist der Anbau entscheidend und nicht der Transport. Die grösste Wirkung erreichen wir also in erster Linie mit dem Entscheid WAS wir konsumieren, nicht WOHER das Produkt kommt.
Auch die Strategie «Saisonal» einzukaufen hat ein beschränktes ökologisches Potenzial. Das grösste Einsparpotential besteht dabei durch den Verzicht von Gemüse aus Gewächshäusern, die mit fossiler Energie beheizt werden. Aber ob wir Kartoffeln ein bisschen länger lagern hat keinen grossen Einfluss auf die Ökobilanz.
Wie genau sind Ökobilanzen?
Die konkreten Zahlen in einer Ökobilanz haben immer eine Unsicherheit, insbesondere weil sehr grosse Unterschiede in der Produktion bestehen. So können wir uns nicht auf die Kommastellen verlassen, aber die Grössenordnung stimmt. Deshalb kommen verschiedene Ökobilanzstudien normalerweise bei den gleichen Themen auf die gleichen ökologischen Hotspots, Schlussfolgerungen und Empfehlungen.
Wie kann die graue Energie reduziert, und die Ökobilanz unserer Ernährung verbessert, werden?
Digitalisierung
ch will wissen, woher mein Essen kommt, wie es hergestellt wurde, usw. Kein Problem sagen die Fachleute, auch komplizierte Lieferketten können zurückverfolgt werden dank der Anwendung von Blockchain-Technologies.
Die Idee ist bestechend einfach: Das Produkt wird am Anfang der Lieferkette digital erfasst (tokenisiert) und während der ganzen Wertschöpfungskette kommen weitere Informationen dazu. Dank dieser Kette von Informationen kann ich jederzeit rückwirkend nachschauen welche Informationen addiert wurden. Wie viel Dünger wurde auf dem Feld ausgebracht, wie viele Stunden Arbeit wurden eingesetzt, wie viel wurde bezahlt für die Ernte, mit welchem Containerschiff kam sie nach Europa, und so weiter.
Ein Vorteil dieser digitalisierten Dokumentation ist die Dezentralisierung der Information. Sie kann, sobald sie erfasst ist, nicht mehr gelöscht oder verfälscht werden, jede Änderung hinterlässt digitale Spuren. Eine Blockchain ist kein zentrales Buch, sondern ist verteilt auf die viele Standorte weltweit.
In einer Blockchain könnten Daten zu CO2 Emissionen und anderen Umweltauswirkungen hinterleget werden, damit jede.r Konsument.in alle Information über das Produkt, z.B. anhand eines QR-Codes auf der Verpackung im Supermarkt, abrufen kann.
Der Nachteil dieser Informationsketten: Die Angaben sind nur so korrekt wie die Eingabe zu Beginn war. Zudem erfordert eine automatisierte Dateneingabe einen hohen Technologisierung der ganzen Wertschöpfungskette. Das könnte zum Nachteil von Kleinproduzentinnen und -produzenten sein und die globale Markt- und Machtkonzentration fördern.
Auch wenn alle Information der ganzen Lebensmittelkette auf der Verpackung eines Produkts verfügbar wäre – für den Kauf entscheidend ist noch anderes.
Unser Konsumverhalten verändern.
Die Diskussion im Plenum hat gezeigt: Es sind einfache Dinge, mit denen Essverhalten verändert wird. Das kann eine Geschichte sein, die man damit in Zusammenhang bringt, ein spannender Name, eine attraktive Zubereitung, oder auch einfach, weil jemand sagt, wie gut es schmeckt. Es gibt Menschen, die in einer Kantine immer Menu 1 wählen. Wenn dort ein attraktives Menu ist, dann kann das auch durchaus mal fleischlos sein.
Je nachdem, wie ein Produkt angepriesen wird, fällt der Entscheid einfacher. In der Diskussion wird von einem Spital erzählt, in dem das Menu normalerweise vegetarisch ist. Es steht auch eine Fleisch-Alternative zur Verfügung, aber vorentschieden ist «Vegi».
Die Liechtensteiner Initiativen setzen auf Wissenstransfer im Netzwerk. Sei das im Schulgarten, auf dem Ernährungsfeld, in der Gemüseackerdemie oder bei den Nachernten: Erlebnisse und Erfahrungsaustausch bringen Kontakt zu den Produzent.inn.en, fun facts und Geschichten zu den Lebensmitteln. Und damit die Lust, auch später weiterhin die so kennen gelernten Produkte zu essen.
Auch für die Gemeinschaftsküchen ist klimafreundliches Kochen eine Herausforderung. Für eine Gruppe Altersheime in Zürich wurden 500 existierende Menus analysiert, ökobilanziert und klassiert nach klimafreundlich, gesund und attraktiv. Die Schnittmenge ergab 150 Menus, die als klimafreundlich, gesund und attraktiv gelten.
Die Themen sind oftmals allen bekannt, Studien belegen seit 20 Jahren die genannten Sachverhalte, aber das Wissen muss noch in den Köpfen ankommen, damit der Paradigmenwechsel passiert und die Symptombekämpfungen ablöst. Im Energiebereich braucht es eine Dachallianz, um die Schnittstellenkoordination zu verbessern. Und im Foodbereich?
Call to action / Schlussvoten
Ernährung ist der grösste Faktor der Umweltbelastung. Der zweite Faktor ist das Wohnen. Beide lassen sich gut kombinieren in modularem Wohnen und kollektivem Gärtnern vor Ort und diversen weiteren Vorteilen wie car sharing Mehrgenerationen Aspekte, knowhow transfer usw.
Bottom-up Initiativen müssen von «up» weitergetragen und Massnahmen eingeführt werden. Lies: es braucht ein Zusammenspiel zwischen initiativen der Zivilgesellschaft, der Politik und der Verwaltung.
Der Austausch zwischen den verschiedenen Projekten und der Bevölkerung ist Voraussetzung zum Umdenken. Sie sensibilisieren, schaffen Berührungspunkte, zeigen wo Hebel sind und Zukunftsperspektiven. Was pflanzen wir an, wie kümmern wir uns um unsere Böden, wie nehmen wir unsere Verantwortung wahr?
Eigentlich sollten wir nicht mehr fragen «bist Du mit dem Auto gekommen?», sondern «was hast du gegessen?»