Warum die Ernährung der Zukunft nicht nur auf dem Land entschieden wird

Städte in der Ernährungspolitik
Rückblick auf die Tagung von Nina Schretr,
Übersetzung des auf Heidi.News erschienen Artikels mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Französischer Originaltext (pdf)

Bild zur Illustration | Keystone/AP Photo/Daniel Ochoa de Olza.

Können städtische Ernährungssysteme nachhaltiger werden? Welche spezifischen Handlungsmöglichkeiten können Städte nutzen? Welche Strategien werden von der lokalen bis zur internationalen Ebene entwickelt? Diese Fragen wurden in der von Agrarinfo organisierten Vortragsreihe „Städte im Zentrum des Übergangs zu einer nachhaltigen Ernährung“ beantwortet. Die erste Veranstaltung fand am 13. Oktober in der Auberge des Vergers im Ökoquartier von Meyrin statt. Heidi.news war dabei.

Warum wir dort waren. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), die am 16. Oktober ihre Gründung feiert, litten im Jahr 2021 zwischen 700 und 800 Millionen Menschen an Hunger. „Und was ist mit den Städten?“, fragt Dominique Burgeon. Der Direktor des Genfer Büros der FAO stellt den Zusammenhang in Zahlen dar:

  • Im Jahr 2050 werden fast drei von vier Menschen in Städten leben, doppelt so viele wie heute;
  • Städte verbrauchen bereits 70% der weltweiten Nahrungsmittellieferungen und 80% der weltweit produzierten Energie.

Auf nationaler Ebene. Auch die Schweiz ist von der Thematik stark betroffen, fügt Alwin Kopse, Leiter des Bereichs Internationale Angelegenheiten und Ernährungssysteme beim Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), hinzu:

  • 75% der Schweizerinnen und Schweizer leben in städtischen oder stadtnahen Gebieten.
  • 36% der Direktzahlungen werden an landwirtschaftliche Betriebe in städtischen Gebieten gezahlt, im Kanton Genf sind es sogar alle. Paradoxerweise wird die Hälfte der Genfer Produktion exportiert, betont Sara de Maio, Generalsekretärin von ma-terre, dem Haus der Ernährung des Genfer Territoriums.

Etwa 40 Personen hören im Untergeschoss der Auberge des Vergers, einige Meter unterhalb von Gästen, die an ihrem Kaffee nippen, konzentriert zu. Der Nachmittag besteht aus einer Reihe von Zooms auf die Veränderungen der Nahrungsmittelsysteme, ausgehend von den weltweiten Erkenntnissen über die Nord-Süd-Partnerschaften und die nationale Strategie der Schweiz bis hin zur besonderen Situation in Genf.

Der aufkommende Begriff «System». In den zahlreichen Präsentationen sind konkrete Beispiele für das, was getan wurde, und vor allem Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit (oder Unwirksamkeit) der eingesetzten Instrumente selten. „Man muss sagen, dass es ziemlich neu ist, die Ernährung in Systemen zu betrachten und sich nicht nur auf Landwirte oder Verbraucher zu konzentrieren“, stellt Valentina Hemmeler Maïga, Generaldirektorin des Office cantonal de l’agriculture et de la nature (OCAN) in Genf, fest, die die Podiumsdiskussion moderierte. Aber man sieht, dass es da ist, in lokalen oder internationalen Überlegungen. Das ist eine gute Sache.“

Die Neuheit des Ansatzes liegt hier: Gesunde und nachhaltige Ernährung wird in einem anderen Massstab gedacht. Dominique Burgeon zählt die Ziele auf:

  • Synergie zwischen städtischen und ländlichen Gebieten
  • soziale Inklusion und Gerechtigkeit
  • Widerstandsfähigkeit gegen Klimaschocks und Nachhaltigkeit
  • Verbindung des Ernährungssystems mit anderen Systemen: Handel, Gesundheit usw.

Soweit die Theorie. Wie lässt sich das alles in die Praxis umsetzen? Es werden mehrere Ansätze genannt:

Der systemische Ansatz. Dabei wird die Ernährung als ein System betrachtet, in dem zahlreiche Sektoren und Bereiche miteinander verflochten sind. Alwin Kopse vom BLW bedauert: „Im Allgemeinen sind die Lösungen eher auf die Produktion ausgerichtet als auf systemische Ansätze. Es gibt kein systemweites Denken, bei dem alle Akteure der Nahrungsmittelkette einbezogen werden.“ Er betont: „Der UN-Gipfel zu Ernährungssystemen veranschaulicht diesen Willen und diese Dynamik. Wir stehen jedoch erst am Anfang: Am Gipfel wurde keine klare Einigung darüber erzielt, welche Art von Transformation genau benötigt wird.

Wissen Teilen, um „das Rad nicht ständig neu zu erfinden“, wie Sara de Maio von ma-terre betont. Dies kann zwischen Städten desselben Landes geschehen, erklärt Alwin Kopse und verweist auf die Beispiele der Dialoge Lausanne-Genf oder Zürich-Basel, die zu der Idee führten, eine unabhängige Organisation zu gründen, um die lokalen Netzwerke der Akteure zu koordinieren und zu stärken.

Ein Wissenstransfer zum gegenseitigen Nutzen kann auch auf internationaler Ebene stattfinden, fügt Rudolf Lüthi, Leiter Wasser, Ernährung und Klima bei Helvetas, hinzu. Nachdem er Feldforschungen in Mbeya (Tansania), Cox’s Bazar (Bangladesch), aber auch in der Schweiz betreut hat, hält er fest:

„Das Lernen ist gegenseitig: Die Städte in den Industrieländern können auch von denen in den Entwicklungsländern lernen. Zum Beispiel ist die lokale Kreislaufwirtschaft in den Städten des Südens viel stärker ausgeprägt.“

Und das Pooling ist umso interessanter, wenn die untersuchten Städte auf gemeinsame Schwierigkeiten stossen, wie z. B. starke Preisschwankungen innerhalb der städtischen Nahrungsmittelsysteme“, fügt Rudolf Lüthi hinzu.

Der Dialog. Das Schlüsselwort des Nachmittags, das sich aus dem systemischen Ansatz ergibt. Der Dialog zwischen allen Akteuren eines Ernährungssystems, von der Regierung über die Unternehmen bis hin zur Bevölkerung, ist unerlässlich, um eine gemeinsame Strategie für ein ganzes Gebiet festzulegen, betont Gaétan Morel, Projektbeauftragter für lokale und nachhaltige Wirtschaft der Stadt Genf. Der Leiter des Programms „Die Stadt ernähren“ veranschaulicht das Ergebnis mit Festi’Terroir, der Einführung halbvegetarischer Menüs in den Schulen und städtischen Gemüsegärten.

Neben dem Dialog ist es jedoch eine „kollektiv zu definierende“ Governance, die einen nachhaltigen Übergang ermöglichen kann, fügt Gaétan Morel hinzu. „Soll es sich dabei um ein offenes Forum, eine Plattform oder ein Beratungsgremium handeln? Und wer wäre legitimiert, daran teilzunehmen? Diese, wie viele andere, Fragen werden offen bleiben. Alwin Kopse vom BLW betonte, dass die Bürger:innenrat zur Ernährungspolitik ein einzigartiger Prozess sei, der Ende des Jahres auslaufe.

Der politische Wille. „Wir brauchen politische Massnahmen“, sagt Martin Sonnevelt, Exekutivdirektor des Schweizerischen Nationalen Komitees der FAO. Der Übergang zu nachhaltigen städtischen Ernährungssystemen ist ein föderales, aber auch ein kantonales und soziales Problem.“ Er stützt sich auf zwei Forschungsprojekte der ETH Zürich RUNRES und NICE, um zwei Hebel dafür herauszuarbeiten:

  • Förderung von Innovationen auf lokaler Ebene (z. B. Wiederverwendung von organischen Abfällen als Dünger);
  • Stärkung der Verbindungen zwischen den Städten;
  • die Notwendigkeit, die lokalen Besonderheiten zu verstehen.

Die Schweiz sollte Projekte im Bereich Agrarökologie unterstützen und dabei die externen Effekte berücksichtigen. Martin Sonnevelt:

„Die Agrarökologie ist funktional, nicht nur in kleinen Betrieben. Es ist möglich, sie in grossem Massstab zu entwickeln, aber dazu braucht es den politischen Willen.“

In diesem Zusammenhang wird der Ständerat im Winter über die vom Bundesrat vorgeschlagene Agrarpolitik ab 2022 (AP22+) abstimmen, die einen ganzheitlichen Ansatz für das Ernährungssystem verfolgt.

Offene Fragen. In der Podiumsdiskussion im Anschluss an die Präsentationen werden Fragen aufgeworfen: Welche Auswirkungen haben nachhaltige Ernährungssysteme auf die Lebensmittelpreise? Sollte der Anteil der Lebensmittel am Haushaltsbudget, der bei etwa 12% liegt, steigen? Soll ein Recht auf Nahrung in die Verfassung aufgenommen werden, wie es der Genfer Grosse Rat Ende September beschlossen hat? Wie kann die Organisation der Lebensmittelverteilung geändert werden, da auch die grossen Einzelhandelsunternehmen einen Teil der Verantwortung tragen?

Das Thema ist noch lange nicht erschöpft und wird es auch mit den abschliessenden Konferenzen der Trilogie nicht sein, die am 15. Oktober in Basel über den demokratischen Wandel und am 16. Oktober in Zürich über die Veränderung des Essverhaltens stattfinden.

Städte als Pioniere der Nahrungsmittelproduktion

Das Thema der Schweizer Veranstaltungsreihe zum Welternährungstag 2022 war «Städte als Triebkräfte für nachhaltige Ernährungssysteme». Bei der Podiumsveranstaltung in der Basler Markthalle stand die demokratische Transformation, also der Einbezug der Konsumierenden in städtische Ernährungssysteme, im Zentrum.

Die Globalisierung und der Freihandel sind die heiligen Kühe der Wirtschaftsliberalen. Doch gerade im Moment erleben wir, und vor allem die Menschen in den ärmeren Regionen der Welt, deren Nachteile besonders bei der Lebensmittelversorgung in voller Härte. Blockierte Versorgungsrouten und skrupellose Spekulation der industriellen Nahrungsmittelproduzenten lassen die Lebensmittelpreise sprunghaft in die Höhe schnellen. Das spürt man hierzulande schmerzhaft in der Haushaltskasse. In Ländern, in denen die Menschen ohnehin Mühe haben, sich genügend Nahrung zu beschaffen, geht es nicht selten um Leben und Tod. An der Basler Veranstaltung in der Markthalle vom 15.Oktober eröffnete Dominique Burgeon, Direktor des FAO-Verbindungsbüros zu den Vereinten Nationen in Genf mit alarmierenden Zahlen die Veranstaltung. Nachdem sich die Welternährungslage zwischenzeitlich verbessert hatte, nimmt der Hunger auf der Welt wieder zu. 180 Millionen Menschen würden unter akuter Nahrungsmittelunsicherheit leiden. 800 Millionen schlafen jeden Abend hungrig ein und in den Krisengebieten im Mittleren Osten und den ärmsten Ländern sterben jedes Jahr immer noch Millionen von Menschen an Hunger. «Das ist», so Burgeon, «im 21. Jahrhundert einfach inakzeptabel.»

Die Menschheit zieht in die Städte

Einer der Gründe dafür ist die galoppierende Verstädterung der Welt. Die industrielle Konzentration der Nahrungsmittelproduktion zwingt die Menschen zusehends, ihren Lebensunterhalt in der Stadt zu suchen und sich so räumlich von der Nahrungsmittelproduktion zu entfernen. Wir werden also nicht umhin kommen, die Städte aktiv in die regionalen und globalen Ernährungssysteme einzubinden.

 «Heute leben bereits 55 Prozent der Weltbevölkerung in Städten», erklärte Burgeon. Bis ins Jahr 2050 werden es 70 Prozent sein.» Höchste Zeit also, dass die Städte in den Fragen der nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion und Welternährung eine Führungsposition einnehmen.

 

«Milan Urban Food Policy Pact»
Im Jahr 2015 fand in Mailand die Weltausstellung Expo 2015 unter dem Motto «Feeding the Planet, Energy for life» statt. Der damalige Mailänder Bürgermeister Giuliano Pisapia regte schon im Vorfeld die Unterzeichnung einer Vereinbarung an, die eine nachhaltigere, fairere und gesündere Lebensmittelproduktion zum Ziel hat. Bis heute haben über 240 Städte den Pakt unterzeichnet und bekennen sich  zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Das Engagement der Städte für mehr Nachhaltigkeit reicht vom Anbau bis zur Entsorgung von Lebensmitteln, indem Verluste reduziert, eine ausgewogene Ernährung gestärkt und nachhaltige Produkte bevorzugt werden. Indem die städtischen Verpflegungsbetriebe diese Ziele verfolgen, nehmen sie eine Vorbildrolle ein.

Die Schweiz gesund und gerecht ernähren.

Bettina Scharrer, Projektleiterin am «Centre for Development and Environment» (CDE) an der Universität Bern erläuterte, dass in der Schweiz 61 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt, 15 Prozent auf dem Land und die übrigen in den urbanen Agglomerationen.

Das «Centre for Development and Environment» betreibt das Forschungsprojekt «Städte als Triebkräfte für nachhaltige Ernährungssysteme». Das heisst, es untersucht die in Zusammenarbeit mit neun Schweizer Städten die Bestrebungen Erfolge und Perspektiven der städtischen Ernährungspolitik. Ausserdem erforscht das Projekt, unter Einbezug der Berner Bevölkerung, wie eine nachhaltige Ernährung sozial-gerecht zugänglich gemacht werden kann. Unter anderem stehen die Lebensmittelflüsse, das städtische Versorgungspotential und die Minderung von Food-Waste im Zentrum des Berner Projekts.

Partnerstädte sind Basel, Bern, Fribourg, Genf, Lausanne, St.Gallen und Zürich sowie der schweizerische Städteverband.

Die Studie ist erst zum Teil ausgewertet. Immerhin liesse sich bis dahin soviel sagen, dass mittlerweile alle beteiligten Städte entsprechende Fachstellen betreiben und bei der Gemeinschaftsverpflegung (Kantinen, Schulküchen etc.) überall substanzielle Bemühungen im Gange sind. Die Stadt Lausanne plant 60 Prozent, die Region sogar 70 Prozent der Gemeinschaftsverpflegung aus biologischer Produktion zu beziehen, die Stadt Biel hat ein 8 Millionen Budget für den Bau von nachhaltigen Grossküchen, die ihre Produkte im vollständig im Umkreis von 35 Kilometern einkaufen. Einige Luft nach oben bestünde aber noch bei der Sensibilisierung der Bevölkerung und der Nachhaltigkeit der Wertschöpfungskette. 

Ausserdem seien Bestrebungen im Gang, städtischen Landbesitz für Bioanbau und Direktvermarktung zu nutzen. 

Genuss für Umwelt, Leib und Seele

Im Anschluss berichtete Alt-Nationalrat, Gourmet und Direktor der Schweizer Genusswoche Joseph Zisyadis über die Aktivitäten der Stiftung «Genusswoche», die sich vor 20 Jahren zum Ziel gesetzt hatte, die kulinarische und önologische (Weinanbau und Konsum) Tradition in ihrer Produktionsregion und biologische Vielfalt zu fördern.
Abgesehen von der Önologie stehen die Förderung von Geschmacks-, Geruchssinn und Genussfähigkeit insbesondere bei Kindern und Jugendlichen im Zentrum. Und natürlich die Organisation der alljährlichen schweizerischen Genusswoche mit mittlerweile bis zu 600’000 Teilnehmenden. Ausserdem wird jedes Jahr eine Stadt zur «Genussstadt» ernannt. Im aktuellen Jahr war Basel Genussstadt. Im Rahmen dieses Programms gab es einen Apfeltag, bei dem die regionalen Apfelsorten vorgestellt wurden, die kultig, kulinarische Foodtour durch die Stadt, bei der man das kulinarische Basel abseits der Touristenführer kennenlernen konnte, die Vorstellung regionaler Spezialitäten, das regionale Käsefest, live Bierbrauen in einer Kleinbrauerei und eine Weinwanderung durch die städtischen Weinberge um nur einiges zu nennen. Mittlerweile ist die Unterzeichnung des «Milan Urban Policy Pacts» (Siehe Kasten),

«Die industrielle Landwirtschaft», so Zisyadis, «unterbricht den Kontakt zwischen den Nahrungsmittelproduzierenden und -konsumierenden. Immer weniger junge Menschen können überhaupt noch kochen und mit der Fähigkeit zu Kochen ginge auch die Fähigkeit zum Genuss verloren. Auch würden immer mehr Menschen einsam vor ihren Tellern sitzen, statt mit Freunden oder Familie gemeinsam zu kochen und zu essen.

Situation Deutschland und Europa

Anna Wissmann, Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund, erklärte die Situation in Deutschland. «Deutschland ist in Fragen der städtischen Ernährungspolitik alles andere als Beispielhaft, aber immerhin passiert auf europäischer Ebene recht viel.» Beim Thema Ernährung in Stadtplanung, Umweltpolitik und Wirtschaft hinke Deutschland der Schweiz weit hinterher. Erst jetzt behandeln einige Städte solche Fragen prioritär. Im Zentrum stünden Kantinen, Bildung, und regionale Beschaffung für den öffentlichen Sektor. Was höchste Zeit sei, da Klimaschutz ohne Ernährungspolitik nicht funktioniere.

Es gibt freilich Ausnahmen wie zum Beispiel Berlin mit dem Projekt der «Kantine der Zukunft». Im Zentrum stehen bei dem Projekt Geschmack, Frische, Regionalität, Ökologie und Abfallvermeidung. Nach nur zwei Jahren beteiligen sich bereits 40 Gemeinschaftsküchen, die jährlich 4 Millionen Mahlzeiten produzieren. Und bereits jetzt findet das Projekt Nachahmer auf Bundesebene. Ein weiterer vielversprechender Ansatz auf Bundesebene ist das seit 2010 existierende Netzwerk Bio-Städte. Die (nur) 22 Mitgliederstädte versuchen für den öffentlichen Sektor regionale Wertschöpfungsketten auszubauen und den Bioanteil im öffentlichen Beschaffungswesen zu standardisieren. Interessante Modelle sieht Wissmann in anderen EU-Ländern. Zum Beispiel den «Parc des Jalles» in Bordeaux, wo ein grosses städtisches Naherholungs- und Naturschutzgebiet teilweise zum Gemüseanbau genutzt wird, was durchaus der Artenvielfalt und dem Flächenschutz zugutekommt. Das Projekt sei besonders wirksam, weil der Anbau direkt mit regionaler Vermarktung der Produkte verknüpft sei.

In Paris ist auf dem Gelände eines ehemaligen grossen Ziergartens die «Ecole du Breuil», eine Schule für urbane Landwirtschaft mit 300 Auszubildenden im Jahr und regelmässigen Seminaren für Laien.

Als Negativbeispiel nennt sie Grossbritannien, wo die Ernährungsarmut schon seit Beginn der 2000er ein massives Problem ist und durch Covid und den Brexit noch verschärft wurde. Dadurch kommt auch Zug in Projekte wie die «Sustainable Food Places» mit 82 Mitgliederorganisationen und die wenig bekannten sogenannten City Deals, bei denen Kommunen und Regional- und Bundesbehörden zusammen mit NGOs und Wissenschaft nach Lösungen suchen. Ausserdem ist Grossbritannien Vorreiter in zivilgesellschaftlichem Engagement für nachhaltige und soziale Ernährung. Mit dem «Food Poverty Action Plan» hat England den ältesten «Ernährungsrat» in Europa.

Umtriebiges Basel

Schliesslich stellt die Gastgeberstadt Basel vor, was in der Region so läuft. Und das ist einiges. Lukas Ott, Leiter Kantons- und Stadtentwicklung Basel erklärte, dass Basel schon 2016 den Milan Food Pact unterzeichnet habe. Basel ist im Wandel. Ehemalige riesige Industrieanlagen werden zu neuen Quartieren. Und bei der entsprechend notwendigen Raumplanung sind die ökologischen Vorgaben nur mit aktivem Einbezug der Bevölkerung notwendig. Zwar verschweigt Ott, dass es gerade bei der Umnutzung der Areale und der Raumplanung auch harte Kritik und viel Unzufriedenheit in der Bevölkerung gibt. Insbesondere was die sozialen und ökologischen Aspekte angeht. Aber darauf genauer einzugehen würde den Rahmen sprengen. Jedenfalls: Obwohl verdichteter Stadtkanton und Chemiemetropole: Auch auf Basler Stadtgebiet gibt es Landwirtschaft und Nahrungsmittelverarbeitung. «Authentische, regionale Produkte würden nicht zuletzt eine Stadt auch beleben». Und wenn man bei der Arealentwicklung der ehemaligen Industrieanlagen auch Raum für, zum Beispiel, lebensmittelverarbeitende Betriebe schüfe, könne das die Wirtschaft des pharmalastigen Kantons durchaus diversifizieren und völlig neue Arbeitsplätze und Wertschöpfungsketten schaffen. Hier ist der Kanton tatsächlich vergleichsweise forsch unterwegs. So trägt Basel zum Beispiel die  Regionalmarke «Genuss aus Stadt und Land» (GSL).Die Marke sorgt für die Vermarktung der Produkte zahlreicher Nahrungsmittelproduzenten, verarbeitenden und Vermarktungsbetrieben aus Basel, Baselland und dem Fricktal und soll das Bewusstsein der Konsumierenden für die Vorteile von regionalen Produkten stärken, als da wären, ökologische und frische Produkte, kurze Transportwege, faire Preise für Produzierende, und Konsumierende. GSL ist Teil der «Projekte zur regionalen Entwicklung» (PRE) die vom Kanton mit 16 Millionen Franken unterstützt werden. In der Stadt gehören bisher die Fleischerei Salsitsch, die Kultbäckerei und das Milchhüsli und das Lebensmittelnetzwerk «Feld zu Tisch» dazu. Ausserdem verschiedene Marktststände und spezielle Märkte. Hinzu kommen verschiedene Formen von Direktvermarktung, Networking, Pressearbeit und öffentliche Informationsveranstaltungen zum Thema. In der Planung ist zudem eine Mälzerei als Verarbeitungsbetrieb in der Stadt erschlossen werden. 

Auf bisher 30 Aaren Stadtgebiet betreibt ebenfalls mit öffentlicher Unterstützung der Verein Plankton urbanen Ackerbau. Dieses Jahr konnte Plankton dreimal soviel Gemüse und Früchte ernten konnte wie erwartet. Das Potential von Plankton reicht zwar erst für die Versorgung von maximal 80 Haushalten in der Stadt. Aber schon bei 100 Haushalten wäre Plankton selbsttragend. Und gemäss einer deutschen Studie könnte eine durchschnittliche europäische Grossstadt 60 bis 80 Prozent ihres Gemüses selbst anbauen. 

Da Basel grad an zwei Landesgrenzen liegt, liege es natürlich auf der Hand, auch Nahrungsmittelproduzenten aus dem grenznahen, ländlich geprägten Elsass und Südbaden einzubeziehen. Der Kanton verhandelt derzeit mit den Zollbehörden darüber, für regionale Produzenten die näher als 10 Kilometer von der Grenze liegen, eine Zollfreizone zu schaffen, damit auch diese sich an der Direktvermarktung beteiligen können.

Alles in allem frohe Kunde. Ott betonte denn auch, dass die Projekte vor allem auch das Positive, den Genuss und die Qualität in den Vordergrund stellen, da Verzichtsdiskurse, wie die Erfahrung zeigt, meist kontraproduktiv wirken.

Ernährungspolitik von unten

Anschliessend stellte sich das «Ernährungsforum Basel» vor, dass beispielhaft zeigt, wie man städtische Ernährungspolitik erfolgreich von unten macht. Obwohl die Kerngruppe des 2018 gegründeten und mittlerweile als Verein organisierten Ernährungsforums nur aus sechs bis 10 Leuten besteht, ist seine Wirkung enorm. Schon 2020 veranstaltete das Forum erste lokale Events. Mittlerweile hat der Verein dutzende Quartierforen und öffentliche Podien mit mehreren hundert Teilnehmenden organisiert. Vereinsvorstand Christoph Schön erklärte, dass sich das Forum zur Mission gemacht habe, alle Akteure der regionalen Foodszene zu vernetzen. Gemeint sind damit Einzelinitiativen aus Zivilgesellschaft, Verwaltung und (Land)Wirtschaft, Gastronomie ebenso wie Konsumierende. Mittlerweile engagieren sich in Zusammenarbeit mit dem Ernährungsforum Vertreter, Foodways, LOKAL, Markthalle Basel, Slow Food Basel, Stadt-Land-Gnuss und Urban Agriculture Basel und ständig kommen neue dazu.

Wieviel Acker braucht der Mensch

Zu guter Letzt referierte Bastian Frich von Geschäftsstelle Urban Agriculture Basel und Präsident Weltacker Schweiz (über beides berichtete Agrarinfo ausführlich). Allein Urban Agriculture Basel unterstützt über hundert kleinere und grössere Projekte zum Thema Stadt, Landwirtschaft und Ernährung. Darunter eben auch das Projekt Weltacker. Wären Land und Erträge gerecht unter der Menschheit verteilt, blieben pro Kopf 2000 m2 Acker. Dort wird auf den jeweils 2000 m2 großen Flächen der Weltacker verständlich gemacht, wie man diese Fläche aktuell verteilt, vor der fortlaufenden Zerstörung schützt, vermehrt und optimal nutzt.

 

Nach soviel Input war der Wunsch zu diskutieren beim Publikum entsprechend gedämpft. Nicht aber die Stimmung. «Das», so eine Besucherin, «war richtig wohltuend. Ich hatte keine Ahnung, wieviel positive Dinge allein in Basel im gange sind» – und widmete sich angeregt plaudernd den vom Weltacker Basel zusammengestellten Apero, der eindrücklich bewies, das soziale und ökologische Ernährung und sinnlicher Genuss keineswegs ein Widerspruch sind.

Links: 

Weltäcker

Die Bewegung Weltäcker macht auf eindrückliche und verständliche Art deutlich, wie die Lebensmittelproduktion funktioniert, und wo Gefahren und Chancen für die Welternährung liegen.

Das menschliche Vorstellungsvermögen ist beschränkt. Hören wir in den Nachrichten Zahlen wie von einer (wachsenden) Weltbevölkerung von 7.5 Milliarden Menschen, von denen 800 Millionen akut Hunger leiden und eine weitere Milliarde unmittelbar von Hunger bedroht sind, hinterlassen solche Meldungen nur selten einen bleibenden Eindruck.

Die Bewegung Weltacker, ein globales Projekt der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, hat zum Ziel,  uns die Dimensionen der ökologischen, politischen und ökonomischen Verhältnisse in der Landwirtschaft begreiflich zu machen. Ausgehend von den Daten des Weltagrarberichtes 2008.

Zur Einführung der Veranstaltungsreihe «Gesunde und gerechte Ernährung für alle» veranschaulichen Mitarbeiter von Weltacker Schweiz eindrücklich, wieviel Acker und Nahrungsmittel die Menschheit konkret hat und braucht.. Als Symbol für den Erdball benutzten sie einen Apfel. Zieht man Wasserflächen, Wüsten, Hochgebirge und Eis und anderes unbebaubares Land ab. Bleibt ein 32stel des Apfels. Und davon ist lediglich die Schale der Teil der Erdoberfläche, der die Welt ernährt.

2000qm Pro Kopf

Wären Land und Erträge gerecht unter der Menschheit verteilt, blieben pro Kopf 2000 qm Acker. Deshalb wird auf den jeweils 2000 qm grossen Flächen der Weltäcker verständlich gemacht, wie man diese Fläche aktuell verteilt, vor der fortlaufenden Zerstörung schützt, vermehrt und optimal nutzt. Der erste wurde in Berlin 2015 errichtet. In der Schweiz wurde der erste Weltacker 2017 von der Organisation Urban Agricultur Basel initiiert. Zur Zeit gibt es in der Schweiz Weltäcker in Bern, Attiswil, Nuglar. Weitere Projekte sind in Arbeit. Weltweit gibt es zur Zeit 11 Weltackerprojekte die mit der Organisation Weltacker Schweiz eng vernetzt sind.

Einige davon bauen die 50 häufigsten Ackerkulturen massstabsgetreu an. Andere dienen als Experimentierfläche, wie wir Ackerbau, Weidewirtschaft und Waldflächen ökologischer und sozialer gestalten können.

Hunger ist Mord

Die gute Nachricht: Die Ackerfläche reicht nicht nur für die aktuell 7,5 Milliarden, sondern für 10 bis 12 Milliarden Menschen.

Die schlechte: Trotzdem leben 800 000 000 in Hunger. Eine weitere Milliarde ist von Hunger und extremer Armut bedroht. Entsprechend wird jedes der täglich 25 Hungeropfer auf der Welt faktisch ermordet  – durch die Profitgier der Konzerne, aus machtpolitischem Kalkül der Nationen und einer ineffektiven Agrarökonomie.

Und die Aussichten sind ohne einen umfassenden Paradigmenwechsel düster. Gesunder Ackerboden ist nicht einfach Erde. Damit die Erde Fruchtbar ist und bleibt braucht es eine grosse biologische Vielfalt im Boden. Genaugenommen auf 2000qm bis zu 20 Billiarden Organismen. Doch neben der fortlaufenden Schrumpfung der Weltweiten Ackerfläche durch Überbauung wird gesunde Erde durch die industrielle Landwirtschaft fortlaufend zerstört. Die Weltweite «Erkrankung» der Böden verursacht neben Hunger und Krankheit Kosten in Höhe von 10.6 Trillionen US-Dollar. 17 Prozent des weltweiten Bruttoinlandproduktes.

Lebensmittel als Viehfutter und Treibstoff

Die Ursachen sind zum Teil schlicht absurd. Zum Beispiel durch industrielle Produktion von Getreide als Kraftfutter für die industrielle Fleischproduktion oder «Bio»-Sprit.

Die Industrielle Landwirtschaft hat in Europa 35 Prozent der an sich ausgezeichneten Ackerflächen verdichtet. 17 Prozent sind extrem stark beschädigt oder gar nicht mehr kultivierbar. Durch die Intensive Nutzung sinkt die natürliche Fruchtbarkeit der Böden, weil Mineraldüngung und Kalk die Erträge zwar vorläufig stabil halten, letztlich aber zur Zerstörung der Ackerfläche führen.

Hoffnung und Erfolge

Doch neben all diesen Problemen macht das Projekt Weltacker auch Hoffnung, weil konkret geforscht wird, wie wir den Anteil fruchtbarer Böden wieder Vergrössern und Alternativen zu irrwitzigen intensiven Landwirtschaft, dem Mobilitätswahn und der ungerechten Verteilung der Ressourcen entwickeln. Das Umdenken in der Landwirtschaft steht erst ganz am Anfang. Und dennoch ist es bereits gelungen, bei 10 Prozent des weltweiten Ackerlandes die Fruchtbarkeit der Böden zu verbessern.

Weiterführender Link:  www.2000m2.eu/ch/