Warum die Ernährung der Zukunft nicht nur auf dem Land entschieden wird

Städte in der Ernährungspolitik
Rückblick auf die Tagung von Nina Schretr,
Übersetzung des auf Heidi.News erschienen Artikels mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Französischer Originaltext (pdf)

Bild zur Illustration | Keystone/AP Photo/Daniel Ochoa de Olza.

Können städtische Ernährungssysteme nachhaltiger werden? Welche spezifischen Handlungsmöglichkeiten können Städte nutzen? Welche Strategien werden von der lokalen bis zur internationalen Ebene entwickelt? Diese Fragen wurden in der von Agrarinfo organisierten Vortragsreihe „Städte im Zentrum des Übergangs zu einer nachhaltigen Ernährung“ beantwortet. Die erste Veranstaltung fand am 13. Oktober in der Auberge des Vergers im Ökoquartier von Meyrin statt. Heidi.news war dabei.

Warum wir dort waren. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), die am 16. Oktober ihre Gründung feiert, litten im Jahr 2021 zwischen 700 und 800 Millionen Menschen an Hunger. „Und was ist mit den Städten?“, fragt Dominique Burgeon. Der Direktor des Genfer Büros der FAO stellt den Zusammenhang in Zahlen dar:

  • Im Jahr 2050 werden fast drei von vier Menschen in Städten leben, doppelt so viele wie heute;
  • Städte verbrauchen bereits 70% der weltweiten Nahrungsmittellieferungen und 80% der weltweit produzierten Energie.

Auf nationaler Ebene. Auch die Schweiz ist von der Thematik stark betroffen, fügt Alwin Kopse, Leiter des Bereichs Internationale Angelegenheiten und Ernährungssysteme beim Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), hinzu:

  • 75% der Schweizerinnen und Schweizer leben in städtischen oder stadtnahen Gebieten.
  • 36% der Direktzahlungen werden an landwirtschaftliche Betriebe in städtischen Gebieten gezahlt, im Kanton Genf sind es sogar alle. Paradoxerweise wird die Hälfte der Genfer Produktion exportiert, betont Sara de Maio, Generalsekretärin von ma-terre, dem Haus der Ernährung des Genfer Territoriums.

Etwa 40 Personen hören im Untergeschoss der Auberge des Vergers, einige Meter unterhalb von Gästen, die an ihrem Kaffee nippen, konzentriert zu. Der Nachmittag besteht aus einer Reihe von Zooms auf die Veränderungen der Nahrungsmittelsysteme, ausgehend von den weltweiten Erkenntnissen über die Nord-Süd-Partnerschaften und die nationale Strategie der Schweiz bis hin zur besonderen Situation in Genf.

Der aufkommende Begriff «System». In den zahlreichen Präsentationen sind konkrete Beispiele für das, was getan wurde, und vor allem Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit (oder Unwirksamkeit) der eingesetzten Instrumente selten. „Man muss sagen, dass es ziemlich neu ist, die Ernährung in Systemen zu betrachten und sich nicht nur auf Landwirte oder Verbraucher zu konzentrieren“, stellt Valentina Hemmeler Maïga, Generaldirektorin des Office cantonal de l’agriculture et de la nature (OCAN) in Genf, fest, die die Podiumsdiskussion moderierte. Aber man sieht, dass es da ist, in lokalen oder internationalen Überlegungen. Das ist eine gute Sache.“

Die Neuheit des Ansatzes liegt hier: Gesunde und nachhaltige Ernährung wird in einem anderen Massstab gedacht. Dominique Burgeon zählt die Ziele auf:

  • Synergie zwischen städtischen und ländlichen Gebieten
  • soziale Inklusion und Gerechtigkeit
  • Widerstandsfähigkeit gegen Klimaschocks und Nachhaltigkeit
  • Verbindung des Ernährungssystems mit anderen Systemen: Handel, Gesundheit usw.

Soweit die Theorie. Wie lässt sich das alles in die Praxis umsetzen? Es werden mehrere Ansätze genannt:

Der systemische Ansatz. Dabei wird die Ernährung als ein System betrachtet, in dem zahlreiche Sektoren und Bereiche miteinander verflochten sind. Alwin Kopse vom BLW bedauert: „Im Allgemeinen sind die Lösungen eher auf die Produktion ausgerichtet als auf systemische Ansätze. Es gibt kein systemweites Denken, bei dem alle Akteure der Nahrungsmittelkette einbezogen werden.“ Er betont: „Der UN-Gipfel zu Ernährungssystemen veranschaulicht diesen Willen und diese Dynamik. Wir stehen jedoch erst am Anfang: Am Gipfel wurde keine klare Einigung darüber erzielt, welche Art von Transformation genau benötigt wird.

Wissen Teilen, um „das Rad nicht ständig neu zu erfinden“, wie Sara de Maio von ma-terre betont. Dies kann zwischen Städten desselben Landes geschehen, erklärt Alwin Kopse und verweist auf die Beispiele der Dialoge Lausanne-Genf oder Zürich-Basel, die zu der Idee führten, eine unabhängige Organisation zu gründen, um die lokalen Netzwerke der Akteure zu koordinieren und zu stärken.

Ein Wissenstransfer zum gegenseitigen Nutzen kann auch auf internationaler Ebene stattfinden, fügt Rudolf Lüthi, Leiter Wasser, Ernährung und Klima bei Helvetas, hinzu. Nachdem er Feldforschungen in Mbeya (Tansania), Cox’s Bazar (Bangladesch), aber auch in der Schweiz betreut hat, hält er fest:

„Das Lernen ist gegenseitig: Die Städte in den Industrieländern können auch von denen in den Entwicklungsländern lernen. Zum Beispiel ist die lokale Kreislaufwirtschaft in den Städten des Südens viel stärker ausgeprägt.“

Und das Pooling ist umso interessanter, wenn die untersuchten Städte auf gemeinsame Schwierigkeiten stossen, wie z. B. starke Preisschwankungen innerhalb der städtischen Nahrungsmittelsysteme“, fügt Rudolf Lüthi hinzu.

Der Dialog. Das Schlüsselwort des Nachmittags, das sich aus dem systemischen Ansatz ergibt. Der Dialog zwischen allen Akteuren eines Ernährungssystems, von der Regierung über die Unternehmen bis hin zur Bevölkerung, ist unerlässlich, um eine gemeinsame Strategie für ein ganzes Gebiet festzulegen, betont Gaétan Morel, Projektbeauftragter für lokale und nachhaltige Wirtschaft der Stadt Genf. Der Leiter des Programms „Die Stadt ernähren“ veranschaulicht das Ergebnis mit Festi’Terroir, der Einführung halbvegetarischer Menüs in den Schulen und städtischen Gemüsegärten.

Neben dem Dialog ist es jedoch eine „kollektiv zu definierende“ Governance, die einen nachhaltigen Übergang ermöglichen kann, fügt Gaétan Morel hinzu. „Soll es sich dabei um ein offenes Forum, eine Plattform oder ein Beratungsgremium handeln? Und wer wäre legitimiert, daran teilzunehmen? Diese, wie viele andere, Fragen werden offen bleiben. Alwin Kopse vom BLW betonte, dass die Bürger:innenrat zur Ernährungspolitik ein einzigartiger Prozess sei, der Ende des Jahres auslaufe.

Der politische Wille. „Wir brauchen politische Massnahmen“, sagt Martin Sonnevelt, Exekutivdirektor des Schweizerischen Nationalen Komitees der FAO. Der Übergang zu nachhaltigen städtischen Ernährungssystemen ist ein föderales, aber auch ein kantonales und soziales Problem.“ Er stützt sich auf zwei Forschungsprojekte der ETH Zürich RUNRES und NICE, um zwei Hebel dafür herauszuarbeiten:

  • Förderung von Innovationen auf lokaler Ebene (z. B. Wiederverwendung von organischen Abfällen als Dünger);
  • Stärkung der Verbindungen zwischen den Städten;
  • die Notwendigkeit, die lokalen Besonderheiten zu verstehen.

Die Schweiz sollte Projekte im Bereich Agrarökologie unterstützen und dabei die externen Effekte berücksichtigen. Martin Sonnevelt:

„Die Agrarökologie ist funktional, nicht nur in kleinen Betrieben. Es ist möglich, sie in grossem Massstab zu entwickeln, aber dazu braucht es den politischen Willen.“

In diesem Zusammenhang wird der Ständerat im Winter über die vom Bundesrat vorgeschlagene Agrarpolitik ab 2022 (AP22+) abstimmen, die einen ganzheitlichen Ansatz für das Ernährungssystem verfolgt.

Offene Fragen. In der Podiumsdiskussion im Anschluss an die Präsentationen werden Fragen aufgeworfen: Welche Auswirkungen haben nachhaltige Ernährungssysteme auf die Lebensmittelpreise? Sollte der Anteil der Lebensmittel am Haushaltsbudget, der bei etwa 12% liegt, steigen? Soll ein Recht auf Nahrung in die Verfassung aufgenommen werden, wie es der Genfer Grosse Rat Ende September beschlossen hat? Wie kann die Organisation der Lebensmittelverteilung geändert werden, da auch die grossen Einzelhandelsunternehmen einen Teil der Verantwortung tragen?

Das Thema ist noch lange nicht erschöpft und wird es auch mit den abschliessenden Konferenzen der Trilogie nicht sein, die am 15. Oktober in Basel über den demokratischen Wandel und am 16. Oktober in Zürich über die Veränderung des Essverhaltens stattfinden.

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